LESEPROBEN

DER BRIEF


Es duftet nach Zimt und heißer Schokolade. Unter der dicken Daunendecke ist es kuschelig und warm. Emilia wackelt vorsichtig mit den Zehen und kreist ihre Füße. ‚Guten Morgen liebe Füße. Danke das ihr mich tragen wollt‘. Dieses kleine Ritual macht Emilia jeden Morgen. Denn als Baby hatte sie verdrehte Füße. Sichelfüße hat der Doktor gesagt. Hätte man Augen auf die großen Zehen gemalt, dann hätten ihre Füße geschielt. Mama musste ihr lange Zeit jeden Morgen die Füße einwickeln, damit die Fußspitzen geradeaus schauen konnten. Boah, wie hatte sie das gehasst. Besonders im Sommer, denn die schönsten Prinzessinnenschuhe sahen einfach nur doof aus, wenn der Fuß darin verpackt ist wie ein Wäschebündel. Heute ist alles gut. Die Fehlstellung hat sich verwachsen sagt der Doktor. Heute kann sie springen und rennen, ohne zu stolpern und dafür ist sie dankbar.


Eine feuchte kleine Nase stupst sie am Ohr. Emilia hat ihre Augen noch immer geschlossen. Sie weiß das Lulu nicht mehr zu halten ist, sobald sie sich rührt. Sie schleppt Emilias Hausschuhe in ihr Körbchen, zupft an der Decke und klopft mit ihrer Pfote immer wieder auf das Kissen, bis Emilia endlich aufsteht. Jeden Morgen! Doch heute ist etwas anders. Sie spürt die feuchte Nase an ihrem Ohr, öffnet die Augen und Lulu wartet entgegen ihrer Gewohnheit geduldig. Hunde sind sehr empfänglich für die Stimmung ihrer Menschen und so merkt sie, dass heute ein besonderer Tag für Emilia ist. Der 1. Weihnachtsfeiertag im neuen Zuhause und die erste Nacht in ihrem neuen Zimmer.


Die letzten Wochen waren schwer für Emilia. Sie musste sich von all ihren Freundinnen verabschieden. Ihr Heim, ihre Kleidung, ihr Spielzeug, ihre Bücher, alles wurde in Kartons verpackt und plötzlich war sie hier, in ihrem neuen Zimmer. Eine kleine, aber gemütliche Dachkammer in einem alten Bauernhaus. Das Haus und auch das Zimmer sind ihr nicht fremd. Sie war oft hier in den Ferien, im Urlaub mit Mama und Papa. Es ist das Haus ihrer Großeltern. Und sie war immer sehr gern hier. Doch nun ist alles anders. Opa Paul ist weg. Sie wusste das er schon länger krank war. Das Herz war schuld. Und kurz nach den Herbstferien kam dieser schreckliche Anruf aus dem Krankenhaus. In wenigen Wochen krempelten Mama und Papa Emilias ganzes Leben um. Sie verstand das. Schließlich konnte Oma Elli nicht allein in diesem großen Haus bleiben. Sie war ein bisschen tütteltü im Kopf, wie Opa Paul immer sagte.  Traurig war Emilia trotzdem. Vor allem aber darüber, dass Opa Paul nun nie wieder mit ihr durch die Wälder schleichen würde. Sie vermisste ihn sehr. Und so war das Weihnachtsfest in diesem Jahr nicht wirklich fröhlich. Auch wenn Mama sich viel Mühe gemacht hatte das Haus weihnachtlich zu schmücken und der Weihnachtsbaum wirklich toll aussah. Viel größer als sonst, denn die Deele im Bauernhaus bot viel Platz dafür.


Plötzlich schießt Emilia ein Gedanke durch den Kopf. Der Brief. Ganz hinten, weit unter den tief hängenden Ästen der wunderschönen Blaufichte, die Papa in diesem Jahr selbst im Garten geschlagen hatte für das Weihnachtsfest, lag gestern noch ein großer cremefarbener Briefumschlag. In der so typischen, altdeutschen und schon etwas wackeligen Schrift von Opa Paul stand in violetter Tinte nur ein Wort darauf „Emiki“. Nur Opa Paul hat sie jemals so genannt. Doch nicht, weil er sie ärgern wollte. Wenn irgendein anderer ihren Namen so verunglimpfen würde, wäre Emilia ganz und gar nicht erfreut. Doch bei Opa war das etwas anderes gewesen. Es gab einen guten Grund dafür. Denn Emilia nannte ihn schon seit sie sprechen konnte „Opapa“, ihre ganz persönliche Abkürzung für Opa Paul. Opapa fand das lustig und wollte für seine Enkelin auch einen ganz persönlichen Kosenamen finden. Und so kam es, dass der Opa das berüchtigte „Emilia, Kind“ das Oma Elli immer ausrief wenn Emilia Quatsch machte oder in nicht immer ungefährlicher Höhe in den Bäumen herumkletterte, kurz und knapp zu „Emiki“ wandelte.

Blitzschnell sprang Emilia aus dem Bett und flitzte auf ihren Socken hinunter ins Wohnzimmer. Da lag er. Gut sichtbar angelehnt an die wunderbaren Bücher, die gestern bunt verpackt für Emilia unterm Weihnachtsbaum gelegen hatten.


Emilia hatte selten größere Wünsche. Sie war schon immer eine Leseratte und liebte besonders Geschichten mit viel Fantasie und Abenteuer. Die Harry-Potter-Bücher hatte sie bereits mehrfach gelesen und auch die Bücher der Tintenwelt von Cornelia Funke konnte sie kaum aus der Hand legen. Spiele und Puppen hatte sie genug, Fahrrad und Skateboard standen in der Garage, modische Kleidung war ihr (noch) nicht wichtig und auch die mittlerweile zum Kinderzimmer-Standard gehörende Flut an Hightech und Hardware war ihr ziemlich schnuppe. Das Notebook in ihrem Zimmer nutze sie fast ausschließlich für die Schule und ihr Handy gehörte längst ins Museum. Behauptete zumindest ihr Vater, der durchaus begeisterungsfähig war für das neueste Smartphone oder die neueste Smartwatch. Wie auch im vorigen Jahr war ihr Weihnachtswunschzettel daher auch in diesem Jahr sehr klar und bescheiden. Auf ihrem Wunschzettel stand nur ein Punkt: „Die Chroniken von Narnia“. Und so hatte Sie neben ein paar praktischen Dingen für die Schule und neuen Reitstiefeln, die Gesamtausgabe mit allen 7 Büchern in einem wunderschön gestaltetem Schuber – eine Sonderedition, wie Mama sagte – vom Christkind bekommen.

Zaghaft nahm Emilia nun den Umschlag in die Hand. Sie wendete und befühlte ihn. Es raschelte ein bisschen, doch schwer war er nicht. Gestern hatte sie nicht den Mut den Umschlag zu öffnen. Zu sehr hatte die Erinnerung an Opapa in diesem Moment geschmerzt. Und Mama hatte dann gesagt, dass es vollkommen okay ist, wenn Emilia dieses Geschenk erst dann öffnet, wenn sie es möchte.


Emilia hielt den Umschlag in der Hand und überlegte. Sollte sie ihn jetzt öffnen? Oder doch noch etwas Zeit vergehen lassen, bis die Trauer um den Opa nicht mehr ganz so schlimm war. Doch neugierig war sie schon auch ein bisschen.  In diesem Moment rief ihre Mutter sie zum Frühstück. An Feiertagen ist es in ihrer Familie Tradition, dass Alle im Schlafanzug mit dicken Socken an den Füssen am Frühstückstisch Platz nehmen und manchmal bis zu zwei Stunden damit verbrachten herzhaft und süß und ausgiebig zu frühstücken. Dafür gab es dann erst am Abend wieder etwas. Heute sollte es die Weihnachtsgans sein, die bereits fertig gefüllt im Backofen stand.

Aber Katzenwäsche musste sein. Hände, Gesicht, Haare schnell zum Zopf und Zähne putzen. Fertig. Also legte Emilie den Umschlag noch einmal beiseite und flitzte ins Badezimmer. Nach dem Frühstück sagte sie zu sich selbst, nach dem Frühstück werde ich den Umschlag öffnen.

  •  


 

Langsam legte Emilia den Brief auf ihre Knie. Tränen rannen ihr über die Wangen. Dabei konnte sie nicht genau sagen, warum genau sie weinte. Ja, sie war traurig, dass Opa Paul nicht mehr bei ihr war. Doch beim Lesen des Briefes fühlte es sich so an, als ob er noch immer hier in der kleinen Bibliothek im Ohrensessel säße, Emilia auf einem dicken Kissen zu seinen Füssen und mit seiner rauen, tiefen und dabei so sanften Stimme eine Geschichte vorlas.

Und das fühlte sich für Emilia nach Glück und Geborgenheit an. Wohlig warm und sicher, eigentlich kein Grund für Tränen. Doch Emilia wusste, wenn Opa Paul tatsächlich noch hier wäre, würde er ihr über die feuchten Wangen streichen und sagen: „Es gibt solche und solche Tränen, und alle Tränen sind gut. Sie helfen dir dabei deine Gefühle anzunehmen, egal ob Wut, Trauer oder Freude. Es ist okay, immer.“ Ja, Opa Paul war schon ein schlauer Fuchs. Ihn hat so leicht nichts aus der Fassung gebracht. Nur Oma Elli ist es hin und wieder gelungen ihn sprachlos zu machen, wenn sie mal wieder sein Heiligtum, seine Werkstatt „aufgeräumt“ hatte. Emilia musste schmunzeln. Was war das immer für ein Theater. Opa Paul hatte seine eigene Ordnung, Oma Elli auch. Beides passte leider ganz und gar nicht zusammen. Oje, armer Opa, nach jeder dieser Aktionen suchte er tagelang, und musste seine Döschen und Schächtelchen mit all den Schräubchen, Rädchen, Farben und was er sonst noch alles für seine Werkeleien brauchte, neu sortieren. Dabei hatte er seiner Frau sogar schon den Zutritt zu seiner Werkstatt verboten. Genutzt hatte es nichts. Spätestens zum Frühjahrsputz konnte Oma Elli sich nicht mehr zurückhalten. Aber das war lange her. Nun war Opapa nicht mehr da und Oma Elli verlor jeden Tag ein Stückchen mehr von ihren Erinnerungen. An manchen Tagen hatte Emilia das Gefühl, das ihre Oma sie gar nicht erkannte. Auch das machte Emilia traurig.  

 

Emilia tauchte wieder auf aus ihren Erinnerungen. Was genau meinte Opapa nur mit dem Schatz und den Steinen? Das, was im Umschlag so geraschelt hatte, war ein daumennagelgroßer Stein. Er leuchtete ihn verschiedenen blau-grünen Farben und als Emilia ihn gegen das Licht hielt sah sie auch kleine Glitzer, die sie anfunkelten. Emilia liebte solche Steine. Und sie erinnerte sich, dass sie irgendwo in ihrem Besitz eine ganze Sammlung verschiedener bunter Steine hatte. Aber wo? Zumal einige ihrer Sachen noch immer in Umzugskartons verpackt waren. Na egal, dafür war auch später noch Zeit. Sie grübelte noch eine Weile über den letzten Satz nach.

„Suche deinen Schatz, folge den Steinen und finde deinen Weg. Ich werde dich dabei begleiten. Auch wenn du mich nicht mehr sehen kannst, mit mir lachen kannst, meine Hand nehmen kannst. In deinem Herzen werde ich immer bei dir sein, wenn du mich brauchst.“





Ein Tümpel voller Glück

 

Emilia landet wie immer mit ihrem Zauberteppich auf der wundervollen Wiese ganz in der Nähe des alten Knochenbaumes der ihren ganz persönlichen Eingang zu ihrer kleinen Welt verbirgt. Sie schlüpft hindurch und wendet sich dem goldenen Schloss zu. Ihre Laune ist immer noch ziemlich gedrückt und so bemerkt sie erst gar nicht, dass die kleine Elfe Fiorentine sie auf ihrem Weg begleitet. „Hallo Emilia, was ist los? Du schaust so traurig oder bedrückt.“ „Oh Fine, sorry, ich habe dich gar nicht bemerkt. Ja irgendwie ist heute ein doofer Tag.“ Wieso? fragt Fine. Ist was Doofes passiert? „Nein, nicht wirklich. In der Schule war es ein bisschen langweilig heut, das Haus war viel zu still als ich zurückkam, aber sonst alles normal. „Aha...das kenne ich gut …geht mir auch manchmal so. Vielleicht hast du heute einen Nebeltag.“ murmelt Fine. „Einen was?“ fragt Emilia. Und Fine erklärt ihr nun, dass es völlig okay ist, sich manchmal so zu fühlen. So als wäre alles grau und neblig. Eben ein Nebeltag. Vielleicht haben wir nicht ganz so gut geschlafen, oder etwas beschäftigt uns, oder etwas macht uns ein bisschen traurig, oder es ist einfach der graue Himmel. „Und was machst du dann damit es wieder besser wird? Ich mag mich nicht so fühlen.“ fragt Emilia leise. „ICH NASCHE GLÜCKSHONIG. Das hilft.“, sagt Fine. Jetzt schaut Emilia verwirrt. „Okay, Naschen ist klar, aber Glücks…Was?“ Und Fine antwortet überrascht: „Oh! Du kennst die Geschichte gar nicht? Dann komm, ich zeige es dir.“ Und Fine führte sie an einen winzig kleinen See, eher einen Tümpel, inmitten von großen bunten und wilden Pflanzen auf einer Waldlichtung, die Emilia bisher noch nicht entdeckt hatte.


„Vor langer Zeil gab es mal einen scheinbar unerschöpflichen Vorrat an Glück für jeden von uns. Und jeder, egal ob magisches Wesen oder Mensch konnte sich davon nehmen, was er gerade brauchte an Glück. Und die Menschen habe das auch sehr gern genutzt. Schließlich möchte jeder von uns am liebsten immer glücklich sein. Aber die Vorräte schrumpften, das Glück wurde immer weniger, immer kleiner, der einst golden strahlende Berg aus Glück schmolz dahin, wie ein Schneemann, sobald die Winter Sonne genug Kraft hat den Schnee zu schmelzen. Und so kam der Tag, an dem der große Berg nur noch ein kleiner goldener Hügel war und die Hüter der magischen Welt beriefen eine Versammlung ein, um zu beraten, was man dagegen unternehmen könnte. Einer der Glückswächter hatte eine großartige Idee. Wie wäre es, wenn jeder der gern vom großen Glück naschen möchte auch etwas dazu beitragen sollte und immer dann, wenn er gerade viel Glück hatte, ein bisschen was davon abgeben würde, um es für später zu speichern. Für später, aber auch für alle anderen, die gerade Glück brauchten. Eine sehr coole Idee. Der Rat war begeistert und so wurde es dann auch gemacht. Es gab eine magische Nachricht an alle Menschen und alle Wesen der magischen Welt, in der dieser Beschluss verkündet wurde.  

Leider hatten viele Menschen zu diesem Zeitpunkt bereits verlernt, die Nachricht zu entschlüsseln. Sie konnten die magische Nachricht nicht lesen. Und so kam es, dass der Glücksberg weiter schrumpfte. Einer der Glückswächter, ein kleiner Elf kam dann auf die Idee, jedem Einzelwesen ein kleines Stück Verantwortung zu übergeben. Jeder sollte daran mitarbeiten, dass es immer genug Glück für alle gab. Indem sie glückliche Momente und Erinnerungen speicherten. Zu diesem Zeitpunkt wurde der Glücksberg bereits in einen Glückssee gewandelt. Weil sich der Glücksnektar einfach leichter sammeln ließ als Glückssteinchen. Doch auch das funktionierte leider nur kurze Zeit. Es gab einfach zu viele Menschen, und zugegeben auch magische Wesen, denen das Glück der anderen nicht wichtig war. Die immer nur nahmen aber nie glückliche Moment in den See zurückfließen ließen. Also kam der Rat erneut zusammen und beschloss, ab das sofort jedes Wesen für sein Glück selbst verantwortlich ist.

Und dann hatte der weiße Rat der magischen Welt beschlossen, dass in Zukunft jeder Mensch ein bisschen mitverantwortlich ist für sein eigenes Glück.  Jeder sollte seinen eigenen kleinen Glückssee füllen, um immer etwas Vorrat zuhaben. Natürlich durften und sollten die magischen Helfer ihre Herzensmenschen dabei unterstützen.  Und so kam es, dass heute jeder seinen eigenen kleinen Glückstümpel in seiner kleinen magischen Welt in seinem Bauch hat. Leider gibt es immer noch viele Menschen, die das nicht wissen und glauben, andere müssten dafür sorgen, dass sie glücklich sind, schade“ beendete Fine die Geschichte. „OHHHH… ich verstehe“, sagte Emilia.

 „Das heißt also immer dann, wenn ich etwas Schönes sehe oder erlebe, dann speichert ihr diese Erinnerung als Glückstropfen in meinem Mini-See?“ „Genau“ sagte Fine, „und immer, wenn du dich gerade nicht so glücklich fühlst, kannst du herkommen und von deinem gesammelten Glück naschen.“ Das fand Emilia wundervoll und beruhigend. Sie wusste genau, dass es an jedem einzelnen Tag schöne Momente in ihrem Leben gab, selbst wenn der Tag grau und neblig war. Der Nasenstüber von Lulu am Morgen, die Umarmung von Mama, bevor sie zur Schule ging, das Lächeln ihrer Freundin, wenn sie ihr Pausenbrot mit ihr teilte…. Sie musste nur hinschauen und fühlen.

Die Idee, das all das in ihrer inneren Welt gespeichert war, gefiel ihr sehr gut und gab ihr ein warmes wohliges Gefühl. Fiorentine war plötzlich verschwunden, doch dieses wohlige Gefühl wollte Emilia gern noch eine kleine Weile festhalten. Bis sie ein paar Minuten später von 5 Glockenschlägen zurückgeholt wurde in ihr kleines Refugium.


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